Zweitageticket für 18. und 19.11.: 12€ / erm. 8€
Wie gestaltet man ein Festival der literarischen Zeitzeugenperspektive in Zeiten von Krieg, Klimakatastrophe und Pandemie? Die gesellschaftspolitischen Veränderungen der letzten Zeit, ihre Geschwindigkeit und Tragweite sind so heftig, dass wir aktuell wenig Raum für langfristige Analysen und Schlüsse, auch im Bereich der Literatur und Kunst erkennen. Stattdessen sehen wir die Möglichkeit für eine Reflektion zu den aktuellen Geschehnissen aus einer Zeitzeugen- und geschichtlichen Perspektive. Autor:innen sind nicht nur Zeitzeug:innen sondern auch biographische Geschichtenerzähler:innen, die den Lauf der Veränderungen wahrnehmen und ihre Erfahrungen, ihr Lebenswissen mittels ihrer Werke und ihrer Stimme dem literarisch interessierten Publikum präsentieren. Eine Zeitzeugenperspektive kann den Status Quo thematisieren, den Augenblick abbilden, die Symptome, die Verhältnisse aufdecken. Es geht dabei um den Veränderungsanspruch von Literatur auf der einen Seite und die Fragestellung: Wie weitermachen? Beim »Das Minus-Schiff – Festival für Literatur in dystopischen Zeiten« kommen Autor:innen aus Deutschland, Russland und der Ukraine zusammen, die in literarischen Begegnungen mit ihren Gesprächspartnern ihre Texte vorstellen und sich zu einem gemeinsamen thematischen Schwerpunkt austauschen.
16:00 Uhr
Lesung und Gespräch mit Clemens Meyer (Deutschland) und Sergej Soloviev (Ukraine/Deutschland)
GRABUNGEN IM STEIN
Sprache ist Grabung. Auf unterschiedliche Weise erzählen der deutsche Romancier Clemens Meyer und der ukrainische Prosaist Sergej Soloviev von den Formationen, den Schichten der Wirklichkeit und ihrer Anverwandlung. Clemens Meyer, ein Meister des harten sozialen Realismus. Sergej Soloviev, eher ein Autor der Meditationen. Literatur ist eine Form der Meditation, um die Welt zu durchdringen, Realismus auch immer eine magische Form und beschwörende Formel. Beide verbindet die Imagination und die Genauigkeit der Beschreibung. Sequenzen der Unruhe auf der einen Seite, auf der anderen: Kontemplation. Oder um im Bild von Claude Lévi-Strauss zu bleiben: Das Harte und das Weiche, das Rohe und das Gekochte. Zwei scheinbar gegensätzliche Autoren treffen in Lesung und Gespräch aufeinander.
Moderation: Wladimir Velminski, Autor und Wissenschaftler.
18:00 Uhr
Lesung und Gespräch mit Inna Krasnoper (Russland/Deutschland) und Nadja Küchenmeister (Deutschland).
DER DUNKLE RAUM UND DIE HELLE MITTE
„in dunklen orten aus worten – lief ich im garten, im wald, lief sie – ich. ich strich. in dunklen räumen…“ schreibt Inna Krasnoper. Ihre Texte vereinen Elemente aus verschiedenen Sprachen und Medien. Der Akt des Schreibens, sagt sie, ist vergleichbar mit dem Prozess der Verschmelzung von Identitäten, von Herkunft und Geschichte. Der dunkle Raum, das sich schließende Dickicht, aber auch die Bewegung, das Fortgehen und das auf etwas zugehen – finden sich in ihren poetischen Texten. n ihrem neuen Gedichtband Im Glasberg (2020) durchstreift Nadja Küchenmeister Plattenbausiedlungen in Berlin-Marzahn, architektonische Zeugen des Realsozialismus. Erinnerungsorte der Kindheit in Ostberlin, als man von der „Besseren Zukunft“ sprach, die anders kommen sollte: Als Wendezeit in den 1990er Jahren, die die Autorin geprägt hat. Latente Dystopie ist Küchenmeisters Texten eingeschrieben, Unorte und Nichtorte wie eine Shoppingmall mit Namen HELLE MITTE tauchen auf, der sie einen Gedichtzyklus gewidmet hat.
Moderation: Dr. Maren Jäger, Literaturwissenschaftlerin. Gastprofessorin an der HU Berlin.
20:00 Uhr
Lesung und Gespräch mit Julia Kissina (Deutschland/Ukraine/USA) und Alexej Schipenko (Deutschland/Russland).
DIE LIEBE IN DEN ZEITEN DES KRIEGES
Die Liebe in den Zeiten des Krieges – ein Paradox? Wird es einen Frieden geben können ohne Liebe? Was verbindet Menschen innig, was trennt sie abgrundtief?
Schöne Literatur kann keine einfachen Antworten geben. Im Sinne der beiden Autor:innen Julia Kissina und Alexej Schipenko ist die Welt durchaus eine Bühne absurden Theaters. Ein Theater der Lebenden, das Lust und Schmerz kennt – und auslebt. Die menschlichen Tragödien sind in der Überzahl. Was können Literatur und Theater, Film und Performance ausrichten? Oder bedeutet es einfach, den Spielbetrieb aufrecht zu erhalten? Bei dem Dramatiker Heiner Müller heißt es in einem seiner Stücke: „Wenn die Lebenden nicht mehr kämpfen, werden die Toten kämpfen.“ Jegliche Kunst, die wahrhaftig ist, kann schreien, weinen und lachen.
Nach den Worten von Alexej Schipenko ermöglicht die Erfahrung einem Schriftsteller, die Identitäten zu wechseln. In seinen Werken erzählt der Autor, wie ein Mensch sich von der westlichen Zivilisation lossagen könnte – um wohin zu gelangen? Nach seinen Worten würde man hier im Westen einer offenen Erzählung über die menschliche Seele nur mit Skepsis und auch Zynismus begegnen.
Julia Kissina zählt zum Kreis der Moskauer Konzeptualisten und zu den Autorinnen der russischen Avantgarde-Literatur. Ihre Werke sind erfüllt von einem skurrilen Humor und scharfen Beobachtungen. Ein wichtiges Thema ihres Schaffens ist das »Unbehagen in der Kultur«. Kaum ein Text von ihr ist in eine konkrete Landschaft eingebettet. Viele ihrer Romane spielen in einem abstrusen Jenseits. Politik wird, wenn überhaupt, nur am Rande gestreift.
Moderation: Dmitri Dragilew, Autor und Musiker.
Das Minus-Schiff – Festival für Literatur in dystopischen Zeiten. II
Samstag, 19. November 2022
14:00 Uhr
Lesung und Gespräch mit Tatjana Hofmann (Ukraine/Schweiz) und Boris Schumatsky (Deutschland/Russland).
DAS KAINSMAL DES IMPERIALISMUS UND DIE SELBSTERSCHAFFENEN HEIMATEN
Nach den Worten des Literaturkritikers Igor Gulin ist es unmöglich, den Imperialismus aus der russischen Kultur zu tilgen, denn er liegt in Wesen dieser Kultur. Fast jede, auch eine äußert private, Äußerung darin wird durch eine besondere Haltung und Bindung zu dieser großen imperialen Bedeutung zusammengehalten. Darin liegt ein Problemfeld, das es zu beschreiben gilt.
Der gebürtige Moskauer Boris Schumatsky beschreibt in seinem Artikel „Die russische Schuld“ das Moskau-Russische als die Sprache der Großmacht, geprägt von hauptstädtischer Arroganz und einer fehlenden Selbstreflexion.
Die Ukraine-Expertin Tatjana Hofmann, die in Sewastopol geboren wurde, sagt: „Heimat ist dort, wo man sie sich schaffen kann“. Sie trägt „ihre“ Krim in sich und beschreibt es in ihren Büchern „Sewastopologia“ und „Krim: Erkundungen am Rand Europas“. Beide Autor:innen lesen aus ihren aktuellen Werken und diskutieren über die Lage der russischsprachigen Kultur im Ausland und über ihre Perspektiven.
Moderation: Hendrik Jackson, Autor und Übersetzer.
16:00 Uhr
Lesung und Gespräch mit Iryna Yevsa (Ukraine/Deutschland) und Tom Schulz (Deutschland).
DIE REALITÄT DER HERAUSGERISSENEN KOORDINATEN
Die Welt hat sich unwiederbringlich verändert, die gegenwärtigen Realitäten werden aus ihren früheren Koordinaten herausgerissen, machen das Erhabene albern, das Ehrgeizige lächerlich und so wird die Lyrik ihres „romantischen Heiligenscheins“ beraubt. Dies scheint Iryna Yevsa schwer zu akzeptieren, obwohl in ihren bekanntesten Texten auch der umgekehrte Prozess zu beobachten ist: wenn etwas Alltägliches, Dürftiges, auf dem Grund der Erinnerung Schwelendes plötzlich mythologische Bedeutung und alttestamentarische Wucht erlangt. Jeder hat seine eigenen Wahrheiten und eigene Unwahrheiten, seine eigene Hoffnung und seinen eigenen Totenschein. Es gibt keine Aufteilung in Insider und Outsider, keine klar definierten Sympathien und Antipathien: „In unserem gemeinsamen eurasischen Haus ist plötzlich alles durcheinander.“
Tom Schulz widmet sich der Schönheit und dem Schrecken der Welt gleichermaßen, sei es auf dem europäischen Kontinent oder anderswo. Auch sein neuester Lyrikband „Reisewarnungen für Länder Meere Eisberge“, 2019 bei Hanser Berlin erschienen, weist den Autor als weltgewandten, sich immer neu auf den Weg machenden Schriftsteller aus. Tom Schulz ist ein „Reiseschriftsteller“ im besten Sinne des Wortes: Regelmäßig erscheinen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ Reportagen aus aller Welt. 2016 publizierte er mit „Das Wunder von Sadagora“ den Bericht von einer Reise durch Polen, die Westukraine und die Bukowina. Als Lyriker gehört Schulz, so Roman Bucheli, zu einer Autorengeneration, die sich „ganz selbst- verständlich der unterschiedlichsten Formen“ bedienen: „Sie sind nicht um jeden Preis avantgardistisch und schrecken dennoch nicht vor sprachlichen und formalen Experimenten zurück. Sie spielen mit dem Material und bleiben erst recht ganz nah an den Dingen.“
Moderation: Claudia Kramatschek, Literaturkritikerin und Kulturjournalistin.
18:00 Uhr
Lesung und Gespräch mit Alina Gromova (Ukraine/Deutschland) und Ingo Schulze (Deutschland).
WECHSELNDE IDENTITÄTEN UND NEUE ANSÄTZE ZUR WAHRHAFTIGKEIT
Ein gewollter, erzwungener oder einfach nur biographisch bedingter Identitätswechsel, sei es religiöser, familiärer oder auch politischer Natur, ist eines der Themen dieser Veranstaltung. Alina Gromova beschreibt sich laut einem Zeitungsartikel als Chamäleon. Als sei dies eine faktische Feststellung ohne nachdenkliche Zwischentöne? Für viele Menschen, die vor 1990 in Osteuropa geboren wurden, wurde das Wechsel- und Sprunghafte eine Selbstverständlichkeit.
Ingo Schulze setzt sich in seinen Werken mit teils unbewussten oder schleichenden Identitätswechseln und geschichtlichen Ab- und Aufbrüchen literarisch auseinander, die auch für die Menschen in der DDR und später im vereinigten Deutschland zur Tatsache wurden. Die gesellschaftlichen Denkmuster und Glaubenssätze, die vor Februar dieses Jahres für unverrückbar gehalten wurden, gerieten ins Schwanken oder scheinen nicht mehr zu gelten. Wie geht es weiter, und wann gelangen wir zu einer neuen Wahrhaftigkeit und erkennen frühzeitig genug die Grenze zwischen Gut und Böse? Darüber sprechen und lesen aus ihren Werken Alina Gromova und Ingo Schulze.
Moderation: Sonja Longolius, Leiterin des Literaturhaus Berlin.
20:00 Uhr.
Abschließende Podiumsdiskussion mit Iryna Yevsa (Ukraine/Deutschland), Michail Schleicher (Deutschland/Russland), Elena Tichomirow-Madden (Deutschland/Russland), Dmitri Dragilew (Deutschland/Lettland).
GARTEN DER PFADE, DIE SICH VERZWEIGEN: WEGE UND WAHRNEHMUNG DER LITERATUR HEUTE
Wir wissen nicht, was haltbarer ist: nationale Identität, Staat oder Sprache. Aber wir wissen seit Neustem leider mit Sicherheit, dass diese Kategorien auch in unserer Zeit nicht von Dauer sind. Haben die Musen das Recht überhaupt zu sprechen, solange die Kanonen es tun? Hat Literatur als schöne und absolute Kunst noch eine Berechtigung? Kann die Literatur von Emigrantinnen und Emigranten eine bedeutende Rolle in der Geschichte spielen? Und kann Poesie jemals dazu beitragen, dass aus dem Garten der sich verzweigenden Pfade ein Garten der Pfade wird, die uns wieder zusammenführen? Michail Schleicher und Elena Tichomirowa-Madden vom SLoG e.V. – der Vereinigung russischsprachiger Autorinnen und Autoren Deutschlands sowie Iryna Yevsa, eine geflüchtete Dichterin aus der Ukraine im Gespräch mit Dmitri Dragilew.
Moderation: Dmitri Dragilew, Autor und Musiker.
Eine Veranstaltung in Kooperation mit dem VFSV e.V., SLoG e.V. und auslandSPRACHEN, großzügig gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa